Risikobewertung niederfrequenter elektromagnetischer Felder

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17.10.15

2.5  Begriffliche Eingrenzung durch SCENIHR möglicher Anlass zu gravierenden Missverständnissen

Diese aufgeteilte Behandlung der Wirkungskette bietet keinen Einblick in die gesamte Wirkungskette und führt in der Darstellung fast zwangsläufig zu einem Durcheinander von Einzelaspekten.

Im Kapitel 3.4 „Interaction mechanisms“ wird laut SCENIHR (S.57) nur auf „mechanisms per se“ eingegangen.  „Mechanismus per se“  ist ein schwammiger, nicht näher definierter Begriff, der offensichtlich meist (aber nicht immer) einen Mechanismus der untersten „Organisationsebene“ der gesamten Wirkungskette betrifft (s.  unten, Stichworte „Chiabrera“ und  „Netzwerk biomolekularer Signal-prozesse“).

Dieses Vorgehen liefert damit auch Anlass zu gravierenden Missverständnissen. Ein Großteil der Laien versteht unter Wirkungs-mechanismus die ganze Wirkungskette molekularer und biologischer Ereignisse bis zur gesundheitlich relevanten Wirkung (was ja auch im Einklang mit der Anforderung der EU-Kommission ist). Eine Aussage von SCENIHR  wie „es konnte kein Wirkungsmechanismus (für die Entstehung gesundheitlicher Folgen) nachgewiesen werden“, bedeutet dann mit SCENIHRs spezieller Eingrenzung für die Bedeutung von „Wirkungsmechanismus“ nur, es konnte kein Wirkungsmechanismus auf der untersten Organisationsebene nachgewiesen werden. Gesundheitliche Folgen können aber durchaus auch in den anderen Organisationsebenen entstehen (s. unten). Viele Laien interpretieren die Aussage von SCENIHR aber so, als ob für die Entstehung gesundheitlicher Folgen in der ganzen Wirkungskette keine Erklärung gefunden werden konnte.

 

2.6  Fehlende konsequente Analyse und Strukturierung des  wissenschaftlichen Problems / Inkonsistentes Flickwerk von Einzelaspekten

Der zentrale Kritikpunkt an der vorliegenden Mechanismenbewertung von SCENIHR ist, dass sie der Gesamtproblematik nicht gerecht wird. 

Wenn auch einzelne neuere Publikationen genannt werden, so entspricht das Vorgehen bei der Gesamtbewertung nicht dem Stand der Problemanalyse, wie er seit vielen Jahren aktuell ist (s. unten: Stichworte „Chiabrera“ und  „Netzwerk biomolekularer Signalprozesse“).

Das laut Aufgabenstellung wesentliche Kapitel „Other Mechanisms“ (S.59ff.) erscheint als unstrukturierte, inkonsequente Bewertung von Teilaspekten, ein Durcheinander aus verschiedenen „Organisationsebenen“ der menschlichen Biologie, mit wesentlichen Lücken bei der Erfassung der gesamten Wirkungskette.

Der Laie wird mit einer Fülle von Einzelinformationen konfrontiert, die bei ihm den Eindruck einer ausführlichen wissenschaftlichen Behandlung des Gesamtproblems erwecken können.

Die behandelten Aspekte sind nur Teilaspekte des Gesamtproblems, die in ihrer letztlichen Bedeutung i.a. nicht eingeordnet werden können.

Die Art der Aufteilung in separate Abschnitte wie z.B.  „Nicht-Gleichgewichtsthermodynamik“ und „Nichtlineare Effekte“ zeugt nicht von einem inhaltlichen Verständnis.

Insbesondere erscheint kontraproduktiv, dass Wirkungsketten, die Organisationsebenen“ übergreifen, nur verstreut und bruchstückhaft in den verschiedenen Abschnitten mit experimentellen Arbeiten behandelt werden.

 

2.7  Netzwerk biomolekularer Signalprozesse nicht angemessen berücksichtigt / Verdeckte Konsequenzen

Die oben genannten Nachteile wären vermieden worden, wenn in dem SCENIHR-Meinungspapier der  immense Fortschritt der Molekularbiologie, der seit über 15 Jahren bei der Erfassung biomolekularer Signalprozesse stattgefunden hat, angemessen berücksichtigt worden wäre. Er schafft eine ganz andere Basis und damit auch andere Anforderungen zur Bewertung möglicher gesundheitsrelevanter Einflüsse elektromagnetischer Felder. In der Darstellung des Problems in Form von Signalprozessen sind einige wichtige Argumente auch für Laien plausibel.

Ein biologischer Prozess läuft dann bedarfsgerecht ab, wenn das Netzwerk biomolekularer Signalprozesse nicht dauerhaft gestört ist. Das bedeutet, dass die notwendigen Signale in der richtigen Dosierung, im richtigen Timing und mit der richtigen Verknüpfung weitergeleitet werden. Das bedeutet wiederum,  dass im gesamten (!) zuständigen Signalkettennetzwerk die benötigten Moleküle verfügbar sind, und zwar in benötigter Menge, in benötigter Konformation und in richtiger Position. Bestimmend sind Werte der Energieübertragung, des Transportes, der Kontakthäufigkeiten und -dauern, der Konformations- und sonstiger Zeitverhältnisse. Noch  komplexer wird das Problem dadurch, dass im biologischen System sich auch die Art der Signalelemente und ihre Verknüpfung in Abhängigkeit von der Vorgeschichte verändern können.

Bei der Behandlung als Netzwerk biomolekularer Signalprozesse ist unmittelbar einsehbar:

>>>  Das „Endsignal“ für den „biological response“ ist nicht nur durch den „Mechanismus per se“ eines „Signalelementes“ (Molekültyps) bestimmt, sondern durch das richtige Zusammenwirken aller Signalelemente: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile; ein neuer Effekt kann entstehen auch ohne dass ein neuer oder veränderter „Mechanismus per se“ gefunden sein muss.

>>> Eine Bewertung von Teilaspekten kann allein keine Antworten auf die anstehenden Fragen geben. (So behandelt z.B. die Publikation von Prohofsky (2004), auf die das SCENIHR-Meinungspapier ja wesentlich zurückgreift, detailliert einige Aspekte der Energieübertragung; auf die gegenüber der Gleichgewichtsthermodynamik veränderten  Kontaktbedingungen z.B. wird aber nicht eingegangen.)

>>>  Die Erwartung einer festen Dosis-Wirkungsbeziehung oder einer immer gleichen Reaktion auf eine elektromagnetische Einwirkung, wie sie  im SCENIHR-Meinungspapier an verschiedenen Stellen zu finden ist, ist bei dem vorliegenden Problem unrealistisch. Das liegt u.a. an der Einwirkungsmöglichkeit des elektromagnetischen Feldes an den unterschiedlichen Stellen des Signalnetzwerkes und der Abhängigkeit der Art der Signalelemente und ihrer Verknüpfung vom jeweiligen Zustand und der Vorgeschichte des betroffenen Gesamtsystems  (s.auch Teil 1 dieser Website).

Unabhängig von einer Problemdarstellung als Netzwerk biomolekularer Signalprozesse wurde zur Erfassung des außerordentlich komplexen biologischen Systems schon vor über 20 Jahren eine Strukturierung in Ebenen aufsteigender Komplexität vorgeschlagen:

atomare Ebene, Biomoleküle, subzellulare Zellstrukturen, Zellen, Gewebe, Organe  [A. Chiabrera, G. d'Inzeo, European COST Action 244, Modelling of Interaction, 1993, G. d'Inzeo,  EU Commission, 6th Framework Programme,  Project no. SSPE-CT-2004-502173, EMF-NET: Effects of the exposure to electromagnetic fields, Report D43,2009].

Das elektromagnetische Feld kann auf den verschiedenen Komplexitätsebenen bzw. - anschaulicher ausgedrückt - „Organisationsebenen“ eingreifen. Eine Störung des Gesamtprozesses kann auftreten, wenn nur in einer dieser Ebenen eine Störung auftritt, selbst wenn alle unteren Ebenen ohne Störung sind.

 

2.8  Nachteile des Fehlens einer konsequenten Analyse und Strukturierung des wissenschaftlichen Problems in dem SCENIHR-Meinungspapier

(N1) Die Bedeutung der Störung von Teilaspekten auf den Endeffekt ist nicht oder schwer zu beurteilen.

(N2) Regelkreise, die sich über verschiedene „Organisationsebenen erstrecken, werden von den Teilaspekten nicht oder unzureichend erfasst.

(N3)  Das eingeschränkte Begriffsverständnis von SCENIHR zum Begriff  Wirkungsmechanismus („mechanism per se“) kann zu falschen Schlussfolgerungen führen.

Somit sind alle Argumente, die auf einer ungestörten Funktion nur in einer der unteren Komplexitätsebenen (z.B. der atomaren) beruhen, keineswegs ein Beleg  für eine störungsfreie Funktion des biologischen Prozesses.

Umgekehrt ist der Nachweis einer Störung auf der untersten (atomaren) Ebene keine notwendige Voraussetzung für den Nachweis einer Störung der  Funktion des biologischen Prozesses.

 

Schon von der grundansätzlichen Anlage her kann die vorliegende Mechanismenbewertung von SCENIHR  der Gesamtproblematik nicht gerecht werden. 

Damit ist eine auch nur annähernd ausreichende wissenschaftlichen Fundierung zum Thema  „Wirkungsmechanismus“ durch das SCENIHR-Meinungspapier nicht gegeben.