Risikobewertung niederfrequenter elektromagnetischer Felder

::

Falsches K.o.-Kriterium für Vorsorgemaßnahmen

 

>>>  Die Forderung eines nachgewiesenen Wirkungsmechanismus als Voraussetzung für die Realisierung

wirksamer Vorsorgemaßnahmen ist nicht angemessen, nicht berechtigt und führt zu unsinnigen

Konsequenzen wie z.B. zu einer nicht vertretbaren Kopplung der Risikovorsorge mit der Systemkomplexität.

 

1. Falsche „conditio sine qua non“:  Kenntnis des Wirkungsmechanismus

Das wesentliche Ziel der Risikobewertung ist es, Informationen zu liefern, um Strategien für ein Risikomanagement, z.B. Vorsorge-

maßnahmen, entwickeln zu können [Renn2001].

Dabei sind die Ergebnisse der Bewertung der Evidenz für einen ursächlichen Zusammenhang wesentlicher Bestimmungsfaktor.

 

In Deutschland werden seit ca. fünfzehn Jahren eine Absenkung der Grenzwerte oder verbindliche Vorsorgemaßnahmen gegen Risiken

aus elektromagnetischen Feldern von Hochspannungsleitungen abgelehnt mit der Begründung, dass kein allgemein anerkannter

Wirkungsmechanismus nachgewiesen sei.

Damit reduziert sich die ganze umfangreich erscheinende Prozedur der Evidenzbewertung [SSK2011] auf eine ja/nein-Entscheidung,

nämlich ob ein allgemein anerkannter Wirkungsmechanismus nachgewiesen sei [siehe auch [ECOL2009].

Die Forderung eines nachgewiesenen Wirkungsmechanismus als Voraussetzung für eine Evidenzeinstufung, die überhaupt irgend-

welche Konsequenzen (wie z.B. Vorsorgemaßnahmen) hat - also sozusagen als K.o.-Kriterium

- widerspricht der üblichen und anerkannten Vorgehensweise (siehe 2.), 

- unterläuft bei komplexen Systemen das Vorsorgeprinzip (siehe 3.),

- führt zu unsinnigen Konsequenzen wie z.B. zu einer nicht vertretbaren Kopplung der Risikovorsorge mit der Systemkomplexität

  (siehe 4.).

 

Das Vorsorgeprinzip ist, soweit es sich um Gesundheitsschutz handelt, grundrechlich verankert (siehe z.B. [Wint2009]). 

 

 

2. Widerspruch zur anerkannten Vorgehensweise

Als die besten verfügbaren Kriterien zur Bewertung, ob eine Beziehung zwischen einer Exposition mit einem Einflussfaktor und einem

Effekt als kausal anzusehen ist, werden die sogenannten Bradford-Hill-Kriterien angesehen [Swae2009] [Hill1965]. 

Auch die SSK gibt an, dass die meisten Ansätze hierzu sich auf die sogenannten Bradford-Hill-Kriterien beziehen [SSK2011].

Hill betont ausdrücklich, dass keines seiner neun Kriterien (wie z.B. ein plausibler biologischer Wirkungsmechanismus) als

unabdingbar für eine Ursache-Wirkungsbeziehung anzusehen ist („None of my nine viewpoints can bring indisputable evidence for or

against the cause-and-effect hypothesis and none can be required as a sine qua non.“) [Hill1965].

Die Einstellung der SSK steht hierzu im direkten Gegensatz.

 

3. Unterlaufen des Vorsorgeprinzips

Zweck des Vorsorgeprinzips ist es,  ausdrücklich gerade da, wo eben keine vollständige wissenschaftliche Beweiskette (Kenntnis des

Wirkungsmechanismus) vorliegt, Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wenn aus sonstigen Informationen einer vorläufigen Risikobewertung

begründeter Anlass zur Vorsicht besteht  [EUC2000].

Auch hierzu steht die Einstellung der SSK im direkten Gegensatz.

Bei komplexen Systemen mit vielen Komponenten und multikausalen Einflüssen ist die Verwendung statistischer Methoden (wie bei

epidemiologischen Studien) oft die bestmögliche Quelle für Informationen, wenn die Wirkungsmechanismen unbekannt sind  (siehe

Abschnitt „Epidemiol. Studien: Bedeutung“).

 

4. Unsinnige Konsequenzen des falschen K.o.- Kriteriums

Je komplexer ein System ist, desto länger wird es i.a. dauern, bis die zugrundeliegenden kausalen Zusammenhänge erfasst sind.  

(Ein weiterer zeitlicher Bestimmungsfaktor ist natürlich auch die eingesetzte Forschungsintensität; sie ist an dieser Stelle aber kein

Thema).

Wenn man die Vorgabe verbindlicher Vorsorgemaßnahmen abhängig macht von der Kenntnis des Wirkungsmechanismus, ist der

Zeitpunkt dieser Vorgabe eine Funktion der Systemkomplexität. Bei sehr komplexen Systemen kann das gleichbedeutend sein mit

dem Verzicht auf Vorsorgemaßnahmen, unabhängig davon, wie hoch das Risiko ist.

Die Vorgabe verbindlicher Vorsorgemaßnahmen muss durch die Höhe des Risikos bestimmt werden, nicht de facto durch die

Systemkomplexität.

 

Die Systemkomplexität darf nicht als Alibi ausgenutzt werden für das Unterlassen kostenverursachender Vorsorgemaßnahmen

(siehe dazu auch [Kund2006]).